NäHE UND DISTANZ: DAS BEZIEHUNGSPROBLEM SCHLECHTHIN

Es ist der Ursprung fast aller Streitthemen in Beziehungen: Verschiedene Vorstellungen davon, wie viel Nähe gut ist und wie viel Distanz es braucht. Warum sich fast alle Beziehungsprobleme auf diesen Konflikt zurückführen lassen und wie ihr ihn lösen könnt, lest ihr hier.

Ein weiser Mann, der zufällig auch Psychotherapeut ist, erzählte mir einst, dass die meisten ernstzunehmenden zwischenmenschlichen Probleme im Grunde auf demselben Streitpunkt basieren: Einem unterschiedlich starken Bedürfnis nach Nähe bzw. Distanz. Als er diesen Satz ausgesprochen hatte, war ich vollkommen baff. Kennt ihr diese Erleuchtungsmomente, in denen sich euch von der einen auf die andere Sekunde plötzlich etwas Wesentliches erschließt? Das war einer dieser Augenblicke. Denn besagter Mann hat absolut Recht.

„Du liebst mich ja gar nicht“ – Klassische Vorwürfe in Beziehungsstreits

Klar: Es gibt auch gravierende Beziehungsprobleme, die sich nicht um dieses Thema drehen. Wenn dich jemand immer wieder anlügt, hat das bestenfalls entfernt etwas mit Nähe und Distanz zu tun. Aber viele andere Probleme lassen sich tatsächlich darauf zurückführen: das Gefühl, nicht genauso geliebt zu werden, Eifersucht, Überforderung, (unerfüllte) Erwartungen, verschiedene Vorstellungen davon, wie oft man sich sehen sollte. Und eventuell auch das Bedürfnis der einen und das Widerstreben der anderen Person, die Beziehung zu öffnen.

Viele Sätze, die man in einem Streit an den Kopf geworfen bekommt oder die man selbst dem*der Partner*in entgegenschmettert, hängen damit zusammen:

  • „Du bist immer eifersüchtig wegen nichts.“
  • „Du fängst an zu klammern.“
  • „Das ist mir gerade alles zu viel.“

All das sind Dinge, die der- oder diejenige mit dem größeren Bedürfnis nach Distanz typischerweise von sich gibt. Auf der anderen Seite haut der- oder diejenige mit dem größeren Bedürfnis nach Nähe oft Sätze in dieser Art raus:

  • „Du liebst mich nicht so sehr wie ich dich.“
  • „Du nimmst dir nie Zeit für mich.“
  • „Ich bin dir nicht wichtig genug.“

Nähe und Distanz, a.k.a. Bindung und Autonomie

Die Psychotherapeutin und Autorin Stefanie Stahl bricht das Nähe- und Distanzproblem auf zwei noch grundlegendere menschliche Bedürfnisse herunter: Bindung und Autonomie. Menschen haben beides in ihrer Kindheit unterschiedlich gut „gelernt“. Personen, in denen Autonomie stark verankert ist, haben häufig Probleme damit, sich wirklich auf jemanden einzulassen. Analog dazu verstehen Menschen, die sich problemlos an jemanden binden können, häufig nicht, was die Autonomie-Fanatiker eigentlich für ein Problem haben. Es ist also sehr individuell, wie viel Nähe eine Person zulassen kann und wie viel Distanz sie wahren möchte. Da die mögliche Bandbreite so groß und jede vermeintliche Einheit auf dieser imaginären Skala doch noch einmal unterteilbar ist, ist es beinahe unmöglich, eine*n Partner*in zu finden, der oder die ein genau gleich großes Bedürfnis nach Nähe bzw. Distanz hat. Und das führt unvermeidlich zu Streitigkeiten. Wie kann man nun daran arbeiten?

Kommunikation und Respekt

Die Antwort lautet wie so oft: gute Kommunikation. Das gilt prinzipiell für beide Parteien, aber insbesondere für die Person, die mehr Distanz braucht. Denn meiner Erfahrung nach fühlen sich diese Menschen schnell überfordert und wollen flüchten, wenn ihr*e Partner*in so viel Nähe sucht, dass sie nicht mehr damit umgehen können. Das ist aber nicht hilfreich, denn wenn ihr einfach einen Schritt zurück macht, ohne vernünftig zu kommunizieren, was euch gerade stört, dann kommt die andere Person instinktiv einen Schritt hinterher. Also: Erinnert euch daran, dass ihr der Sprache mächtig seid und versucht, eure Gedanken zu erklären und dem Menschen, den ihr liebt, trotzdem ein gutes Gefühl zu geben.  

Auf der anderen Seite sollten Leute, die mehr Nähe suchen, lernen, die Grenzen der anderen Person zu respektieren. Es gibt nun einmal Leute, die nicht jede freie Minute mit dem*der Partner*in verbringen wollen und die sich davon erdrückt fühlen. Das bedeutet aber nicht, dass sie euch weniger lieben als ihr sie. An dieser Stelle ist es wichtig, zu verinnerlichen, dass nicht alle Menschen gleich sind und dass es okay ist, wenn jemand Dinge anders sieht als ihr.

Versteht, dass Menschen unterschiedlich sind

Man macht es sich sehr leicht, indem man einfach von sich selbst auf andere schließt. Hier geht es aber um echte Menschen mit echten Gefühlen, und die sind nun mal nicht eindimensional, sondern vielschichtig und komplex. Nur weil du das Gefühl hast, dein*e Partner*in raubt dir manchmal die Luft zum Atmen, heißt das nicht, dass er*sie bewusst so handelt. Jede*r tut intuitiv das, was dem eigenen Wesen entspricht. Und auch andersherum gilt: Nur weil dein*e Partner*in mehr Zeit für sich braucht, bedeutet das nicht, dass er*sie dich nicht genauso liebt.

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen das Nähe- und Distanzbedürfnis der Partner*innen zu unterschiedlich ist, sodass es keinen Kompromiss gibt und beide sich vermutlich eher schaden, als dass sie einander guttun. Falls dem so ist und ihr nicht das Gefühl habt, jemals auf einen Nenner zu kommen, solltet ihr euch vermutlich trennen. Aber einen Versuch ist es definitiv wert, intensiv darüber zu sprechen und zu schauen, ob man sich einigen kann. Denn, wie gesagt: Dass man jemals eine Person trifft, deren Bedürfnisse exakt genauso ausgeprägt sind wie deine eigenen, ist höchst unwahrscheinlich. Also, Spoiler: Das Problem wird in jeder Beziehung zu euch zurückkehren. Irgendwann werdet ihr es lösen müssen.

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Bildquelle: Keira Burton on Pexels; CC0-Lizenz

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