KATZENFORSCHUNG: NEUE ERKENNTNISSE RäUMEN MIT KLISCHEES AUF

Sechs Zehen, eine heraushängende Zunge, schielende Augen: Schön war Lil Bub wahrlich nicht. Dennoch – oder gerade deswegen – avancierte sie dank des Internets zu einer der berühmtesten Katzen der Welt. Zum Studienobjekt wurde die Findlingskatze aus Bloomington, Indiana, weil auch Molekularbiologen wie Daniel Ibrahim nicht vor der Anziehungskraft von Katzenvideos gefeit sind. Lil Bubs außergewöhnliche Erscheinung erinnerte ihn frappant an genetische Veränderungen bei seinen Patientinnen und Patienten am Max-Planck-Institut in Berlin. „Entwicklungsprozesse wie die Knochenbildung verlaufen bei allen Arten sehr ähnlich“, sagt Ibrahim. Das Genom der Katze mit dem Zwergenwuchs zu entschlüsseln, könne helfen, seltene Erkrankungen beim Menschen besser zu verstehen. Der Biologe sollte recht behalten: Der 2019 verstorbenen Lil Bub fehlte eine einzelne Base in einem Gen, das bereits zuvor bei Menschen und Mäusen mit Osteopetrose, der sogenannten Mamorknochenkrankheit, in Verbindung gebracht worden war. Hier ein Video von Lil Bub:

Die Forschung hat ihre Leidenschaft für Katzen recht spät entdeckt. Vor allem die Verhaltensbiologie beschäftigte sich jahrzehntelang lieber mit den treuherzigen Hunden. Katzen galten dagegen als undurchschaubar, schwierig und unkooperativ. Dass das so nicht stimmen kann, haben Katzenhalterinnen und -halter seit Langem geahnt – und aktuelle Studien geben ihnen in großen Teilen recht. profil hat die neuesten Erkenntnisse rund um den schrägsten Freund des Menschen zusammengetragen.

Futter oder Streicheleinheit?

Die Verführung sollte denkbar groß sein. Bevor US-Verhaltensforscherin Kristyn Vitale ihre Probandinnen und Probanden – 38 Katzen, die Hälfte im Tierheim, die anderen Haustiere – zum eigentlichen Test bat, erprobte sie deren Vorlieben. Hatte Sir Charles eine Schwäche für Huhn oder Thunfisch? Wollte Princess lieber gestreichelt oder mit der Stimme umworben werden? Welches Handtuch roch für Krusty am besten: Das mit dem Duft von Wüstenspringmäusen oder das mit der Katzenminze? Hatte ein Federspielzeug oder eine Stoffmaus höhere Anziehungskraft auf Marley?

Sobald die Favoriten jeder einzelnen Katze ermittelt waren, baute Vitale ihr Versuchsfeld auf; entweder in der Wohnung der Katzenbesitzer oder in einem vertrauten Raum des Tierheims. Im Abstand von 1,5 Metern lagen nun das Lieblingsfutter, das bevorzugte Spielzeug, der verführerische Duft bereit – und ein Mensch saß dort, der die präferierte Interaktion anbot. Nun konnten die Katzen wählen. Das Ergebnis: Die Hälfte der Katzen entschied sich für den Menschen, nur ein Drittel wählte das Futter; Spielzeug und Düfte blieben häufig unberührt. Zwischen den im Tierheim lebenden Katzen und Stubentigern gab es übrigens keinen Unterschied. „Für mich war es keine Überraschung, soziale Katzen zu beobachten“, sagt Vitale. Sie ist eine der wenigen Verhaltensforscherinnen weltweit, die sich am Unity College in Maine ausschließlich Katzen widmet. Das Argument, die Tiere seien unkooperativ, lässt sie nicht gelten: „Wenn man Probleme hat, das Verhalten einer Spezies zu untersuchen, ist möglicherweise nicht die Spezies das Problem.“

Starke Bindung

2019 nahm sich Vitale mit zwei Kolleginnen den sogenannten Secure Base Test (SBT) vor, einen standardisierten Bindungstest, den auch Hunde, Primaten und sogar Kleinkinder schon durchlaufen hatten. Sie führte Katze und Besitzerin in einen ihnen unbekannten Versuchsraum. Nach zwei Minuten verließ die Besitzerin den Raum, um ihn nach zwei Minuten wieder zu betreten. Gemessen wurde, wie die Samtpfoten auf die neue Umgebung reagierten: Der Großteil der Katzen protestierte lautstark gegen das Alleinsein, begrüßte ihre Besitzer, beruhigte sich, sobald sich diese auf den Boden setzten und begann dann, den fremden Raum zu erforschen. Die Wissenschaft nennt dieses Verhalten eine sichere Bindung. 65 Prozent der Katzen zeigten diese enge Beziehung zu ihren Menschen – und schnitten damit exakt gleich gut ab wie Kleinkinder bei diesem Test.

Vitales Kater Carl absolvierte schließlich auch noch den Zeige-Test mit Bravour. Entwickelt wurde dieser für Kleinkinder: Eine Bezugsperson deutet auf einen Gegenstand, das wenige Monate alte Baby folgt der Hand und richtet seine Aufmerksamkeit darauf. Lange glaubte man, dass nur Hunde das ebenfalls können; viele andere Spezies, darunter Schimpansen, waren krachend daran gescheitert. Kater Carl – und im Anschluss viele andere seiner Artgenossen – hingegen folgte dem Fingerzeig von Kristyn Vitale mühelos und steuerte zielstrebig auf jene der zwei Schachteln zu, auf die seine Halterin gedeutet hatte.

Von Gurken und Schachteln

Das Rezept für ein YouTube-Video mit Tausenden, manchmal sogar Millionen Klicks ist denkbar einfach: Man füttere seine Katze und lege ihr während der Mahlzeit unbemerkt eine Gurke neben die Pfoten. Beim Abwenden vom Fressnapf erschrecken die meisten Tiere derart, dass sie rekordverdächtige Sprünge absolvieren und Haken schlagend das Weite suchen. Der Hype „Katze versus Gurke“ begann um 2014 und ist bis heute ein Renner im Netz. Zugegeben, es ist verdammt lustig, den Katzen bei der überstürzten Flucht zuzusehen. Aber warum fürchten sie sich derart vor dem harmlosen Gemüse?

Der Auslöser ist weniger die Gurke als das Überraschungsmoment: Die Katze ist vertieft ins Fressen und rechnet einfach nicht mit einer Störung. Erwiesenermaßen funktioniert der Schreck auch mit anderen Gegenständen. Lydia Koch von der Unirsitätsklinik für Kleintiere in Wien rät übrigens davon ab, Katzen derart zu erschrecken. „Das kann ihnen die Sicherheit an ihrem Fressplatz rauben.“

So sehr sie die Gurke scheuen, einen anderen Gegenstand lieben sie umso mehr: die Schachtel. Katzen quetschen sich mit Vorliebe in Boxen, auch wenn diese noch so klein sind. „Das gibt ihnen ein Gefühl von Geborgenheit“, sagt Tierärztin Lydia Koch. Wann immer es möglich ist, bekommen die Katzen deshalb in der Vetmed-Klinik einen Käfig mit Unterschlupf. Tatsächlich können Kisten aller Art den Stresslevel erheblich senken. Forscherinnen der Universität Utrecht beobachteten 23 Katzen bei der Eingewöhnung ins Tierheim. Die eine Hälfte bekam in der zwölftägigen Quarantäne eine Kiste, die andere nicht. Der Unterschied war groß: Die Katzen mit dem Unterschlupf konnten ihren Stresslevel sieben Tage früher auf ein normales Maß senken.

Tödliches Kuscheltier

So sanft sich Katzen auf der Couch auch geben: Außerhalb des Hauses verwandeln sich viele von ihnen zu unerbittlichen Jägern. „Sie bedrohen damit die Biodiversität massiv“, sagt Richard Zink vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung. Katzen erbeuten neben Mäusen auch viele bedrohte Arten: Eidechsen, Blindschleichen, Fledermäuse, Vögel, Libellen, Siebenschläfer, Frösche, Molche. Zink ist am Wiener Stadtrand aufgewachsen, wo sich in seiner Kindheit die heute streng geschützten Zauneidechsen tummelten. „Dann schafften sich immer mehr Nachbarn Katzen an, seitdem sind die Reptilien lokal verschwunden“, sagt der Ornithologe, dessen Familie selbst zwei Katzen hat.

Wie vereint er Naturschutz und Katzenhaltung? Er hat einen katzensicheren Zaun um den Garten gezogen – so können die Tiere raus, ohne Schaden anzurichten. Dass das nicht überall möglich ist, ist Zink durchaus klar. „Es würde auch sehr viel helfen, wenn Katzen nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit Freigang hätten“, sagt er. In den frühen Morgenstunden, am frühen Abend und in der Nacht machen Katzen am meisten Beute – und sollten besser drinnen bleiben. „Moderne Katzenklappen lassen sich programmieren, das sollte man nützen“, empfiehlt Zink.

Warum aber jagen Hauskatzen überhaupt, wo sie doch zu Hause mit allen erdenklichen Köstlichkeiten verwöhnt werden? „Fressen und jagen sind zwei verschiedene Dinge. Auf die Pirsch zu gehen, macht einfach unheimlich Spaß“, sagt der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal. Für Menschen ist es schwer mitanzusehen, wie Katzen ihre Beute quälen, bevor sie sie endlich töten. Aus Sicht der Jägerin macht das aber durchaus Sinn: Die Katze lernt beim Spielen ihre Opfer kennen und verbessert ihre Jagdtechnik.

Wie die Katze mit dem Menschen spricht

Die gemeinsame Geschichte begann vor etwa 10.000 Jahren im Nahen Osten. Mit dem Getreide, das die sesshaft gewordenen Menschen anbauten, kamen die Mäuse und in ihrem Gefolge die Falbkatze. Felis silvestris lybica, eine der fünf Unterarten der afrikanischen Wildkatze, ist die Vorfahrin der heutigen Hauskatze, wie Wissenschafter der Uni Leuven 2017 mittels Genanalysen ermittelten.

„Die Katzen domestizierten sich selbst“, sagt Verhaltensforscher Kotrschal. Jene Tiere, die in der Gegenwart von Menschen gelassen blieben, waren klar im Vorteil; demnach vermehrten sie sich im Umfeld der ersten Bauern erfolgreicher als ihre scheuen Artgenossen. Mit der zunehmenden Zahmheit tauchten bei den Katzen (wie übrigens bei allen Haustieren) die sogenannten Domestikationssymptome auf: Die bunten Fellfarben entstanden, die Schädelform veränderte sich leicht – und sie wurden gesprächig. Bei den Wildkatzen miaut nur der Nachwuchs, und zwar, wenn er gesäugt werden will. Erwachsene Tiere fauchen, aber ein jämmerliches „Miau“ würde den wilden Verwandten niemals über die Lippen kommen.

Ganz anders die Hauskatze. Sie gurrt in allen Tonlagen, fordert lautstark ihr Futter, protestiert schrill, wenn sie zum Tierarzt muss. Die schwedische Phonetikerin Susanne Schötz hat die Rufe von Katzen analysiert und klare Muster entdeckt, Hörproben gibt es auf ihrer Website Meowsic. Das Miau einer verängstigten Katze schlage einen Bogen und falle dann steil ab: „MIII-au“, erzählte Schötz dem „Spiegel“. Eine bettelnde Katze hingegen ziehe die Stimme am Ende hoch: „Miii-AAAAU.“ Die Geschwätzigkeit zeitigt offenbar Erfolg: Menschen verstehen die Sprache der Katzen erstaunlich gut, wie Schötz feststellte, als sie Versuchspersonen die Aufnahmen vorspielte.

Warum sind Katzen die Königinnen des Internets?

Das liegt zum einen an ihrer Unberechenbarkeit. „Hunde spulen ein Standardprogramm ab, um dem Menschen zu gefallen. Katzen sind hingegen Individualisten, begabte Terroristen, kreative Futtertyrannen“, sagt Kurt Kotrschal. Katzen werden also nie langweilig.

Alexis Ohanian, Gründer des Online-Forums Reddit, kennt den zweiten Grund: „Anders als Hundebesitzer, die sich im Park treffen, konnten Katzenbesitzer nie mit anderen abhängen, um Katzenbesitzer-Dinge zu machen. Bis das Internet daherkam.“

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